NACHTKRITIK; Leser*innenkritiken: „Ben Hur“ am SHL Rendsburg
#925Reiner Schmedemann05.04.2025 12:48
Endlich fand das mit 11 Oscars ausgezeichnete monumentale Filmepos „Ben Hur“ dank der Adaptation des Briten Rob Ballard auf die Bühne des SHL, als wenn Hollywood das Alte Rom in der Mittagspause gedreht hätte, unter der Regie von Sonja Streifinger – nicht nur Faust auch Oscar verdächtig.
Es wurden weder Kosten noch Mühen gescheut eine aufwendige „Revuekulisse“ auf die kleine Bühne der Kammerspiele zu zaubern und prächtige Kostüme kreiert (Martin Apelt) – hätte der römische Senat sie gesehen, sie hätten sich kollektiv im Forum Romanum verbuddelt – um einen glamourösen Theaterabend im Stil einer „Sitcom“ auf „die Bretter, die die Welt bedeuten“ zu hieven.
Im Sinne der „modernen politischen Küchentischgespräche“ gab es kein besseres Bühnenbild als eine moderne Küche, deren Interieur alles beinhaltete was an Requisiten erforderlich war (Teesiebe, Eierschneider, Bratspieße, Wischmopps, Kuchenformen, Tischdecken etc.). Auch bei der Starbesetzung wurden keine Kosten gescheut: vier junge, spielwütige Darsteller*in (H.L. Schlewitt, G. Imkamp, S.R. Scholz und D. Tobi) in 33 Rollen, schon jetzt „FAUST-Preis“ verdächtig, sowie ca. 100 Kleindarsteller in Form zahlenden Publikums als Galeerensklaven, Bürger Roms, Legionäre, vollblütige Streitrösser und was sonst noch benötigt wurde.
Für dieses im Grunde unaufführbare Werk der Weltliteratur hatte man die talentierte, raffinierte Regisseurin Sonja Strei(t)finger angeblich nach harten Verhandlungen gewonnen, um mit Verwandlungskunst, Witz, Tempo, schwarzem Humor und absurdesten Verwicklungen die Story von Judah Ben Hur hitverdächtig zu offerieren.
Der gekonnt „ahnungslose“ Regiestil ausgerichtet an Vorbildern wie Elia Kasan oder Peter Brooks – oh Frankie Boy Castorf nicht vergessend – ermöglichte einen heillos ausgelassenen, absurden Spaß mit einer Extraportion Slapstick und man suchte ständig nach den Papiertaschentüchern, um die Lachtränen zu trocknen.
„Ben Hur“ ist die epische Version eines Roadtrips durch das alte Rom – nur ohne Google Maps und mit deutlich mehr Sand im Getriebe. Der heldenhafte Ben Hur – statt des gewaltigen Charlton Heston eine Schauspielerin H.L. Schlewitt mit Bart-Mopp – wird plötzlich zum Sklaven degradiert, weil sein Kumpel und Statthalter H.F. Messala (jegliche Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Mitbegründer und Generalintendanten des SHL Horst Mesalla sind rein zufällig oder zufällig gewollt?) gespielt von G. Imkamp – nennen wir ihn den Drama-Queen unter den Römern – sich anscheinend mehr für Intrigen als für gute Freundschaft interessiert. Nach 3 Jahren Galeerensklave entkommt Ben Hur schwimmend zwischen den Wogen blauer Müllsäcke und plant ein spektakuläres Comeback – ein rasantes Wagenrennen, das alle bisherigen „Fast & Furious“-Filme alt aussehen lässt, mittels zweier Küchenstühle im imposanten Küchenrund und einem Budget, das nicht für einen Sandkasten gereicht hätte. Bei den Rössern hatte man den Eindruck, dass sie den Vertrag gelesen und am liebsten freiwillig gekündigt hätten. Das Ende wird galaktisch – Meister Yoda aus Star Wars entführt Ben Hur ins Universum, wo er bis heute weilt, wenn er nicht gestorben ist.
Doch Halt! Noch die Dialoge! Oh, diese Dialoge! Episches Pathos trifft auf Schultheater-AG. Shakespeares gesammelte Werke einmal durch DeepL Translate gejagt und mit einer Brise „Game of Thrones“ und lokalem Kolorit gewürzt.
Hey, der Abend hatte Charme – irgendwie! Wie ein Schulausflug ins Römische Reich mit einem engagierten, aber völlig übermotivierten Geschichtslehrer und der Take Home Message „Wenn dir das Leben eine römische Intrige serviert, dann serviere deine Rache mit einer gehörigen Portion humorvollem Drama und einer Prise intergalaktischer Intervention!“
Das Publikum tobte vor Begeisterung über diesen herrlichen Nonsens und die schauspielerischen Leistungen der Darsteller*in auch wenn es nicht James Dean, Marlon Brando, Jack Nicholson und Elizabeth Taylor waren. Merci & Chapeau!
NACHTKRITIK, Leser*innenkritik: Besuch der alten Dame, SHL #916Reiner Schmedemann23.03.2025 00:49
Der Besuch der alten Dame, Schleswig-Hosteinisches Landestheater, Rendsburg
Am Samstag hatte Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“ in der Regie von Finja Jens am SHL in Rendsburg Premiere. Das provokative Stück handelt von der Korruption der Menschen sowie der Schuld des Einzelnen und wirft Fragen zu den dunklen Seiten menschlicher Natur und der zerstörerischen Macht des Geldes auf. Top aktuell stellt es die Fragen, ob Gerechtigkeit durch Rache und finanzielle Macht erkauft werden kann.
Die Tragikomödie handelt von C. Zachanassian (K. Winkler), der milliardenschweren alten Dame, die in die verarmte Heimatstadt Güllen (Nomen est omen) zurückkehrt, um sich an ihrem ehemaligen Geliebten, Alfred Ill, zu rächen. Als Milliardärin verfügt sie über finanzielle Macht, mit der sie die Bürger der Stadt für ihre Zwecke instrumentalisiert und die scheinbar harmlose Kleinstadtidylle in eine Bühne des moralischen Verfalls und der Gewalt verwandelt. Von den Bürgern wegen ihres Reichtums umworben, wird sie zur Herrin über Leben und Tod, wie Medea. Nur Alfred Ill (R. Rollin) erfährt eine kathartische Läuterung, indem er seine Schuld anerkennt und ein moralisches Bewusstsein entwickelt. Die Bürger lächerliche Chargen, die der Verführung des Geldes erliegen und groteske Szenarien schaffen.
Sprache als Mittel der Groteske mittels sprechender (Güllen = Gülle; Zachanassian = Milliardäre Zaharoff, Onassis, Gulbenkian; Alfred Ill = ill – krank; Klara Wäscher = reinwaschen) und homophoner Namen (Toby, Boby, Moby). Diminutive, die ihre Träger zu austauschbaren, lächerlichen Schablonen und Spielfiguren machen.
Gespielt wird in einer in die Jahre gekommenen Bahnhofshalle, die mit wenigen Handgriffen für die Szenen umgestaltet wird (Bühne und Kostüme: V. Hegemann). Um der Forderung Dürrenmatts nach schrägem, groteskem Spiel gerecht zu werden bedient sich F. Jens verschiedener Stilmittel. Eine Frauenrolle wird von einem Schauspieler (Frau Ill von M. Maecker) und Männerrollen von Schauspielerinnen (Bürgermeister von NF. Maak; Gatten VII–IX von M. Grahnert; Polizist / Pfändungsbeamte / Pressemann von A. Utzelmann) gespielt. Des Weiteren bedient sie sich choreographierter Tableaus, wie den Showauftritt von Claire, indem die Bürger mit verlangsamten, manieristischen Bewegungen ein skurriles Bild schaffen oder Claire die Bürger surreal, wie Marionetten im Wind sich biegen lässt oder die Bürger im spot-light ihr nahendes Verbrechen rechtfertigen und die Presse diese als moralisch, ethisches Verhalten kommentiert, statt die Verlogenheit der Redner zu demaskieren. Die Korrumpierbarkeit der Bürger verbildlicht sich auch in den gelben Schuhen. Weiter lässt sie Schilderungen von Ill parallel von Schauspielern*innen pantomimisch darstellen. Musikeinspielungen nutzt sie geschickt, um Erinnerungen emotional aufzuladen.
In dieser Inszenierung avanciert der Bürgermeister (NF. Maak) zur faszinierenden Hauptrolle durch ihr groteskes Spiel und ihre sonore Stimme und gipfelt in dem Ausspruch „Noch sind wir ein Europa“. R. Schleberger überzeugt als Butler, dem strategischen Strippenzieher und R. Rollin als Ill – ein gebrochener Mann mit zärtlichen Gefühlen, der seine Schuld anerkennt -überzeugt wieder durch sein nuanciertes Spiel. Nur mit Claire (K. Winkler) habe ich meine Schwierigkeiten. Sie ist mir zu agil und lebensfroh. Wo sind ihr Zynismus und ihre Grausamkeit? Sie ist mehr die eiskalte Business-Lady mit der Erkenntnis, dass der Mensch eine Bestie ist mit der Fähigkeit zu Ansätzen von Humanität.
Die Inszenierung hat viele gute Ideen und sauber gearbeitete Szenen, aber sie packt mich nicht. Wo bleibt die Brisanz dieses Theaterabends? Wo die schleichende, nahezu unbemerkte Machtergreifung des Geldes über die Humanität.
Zachanassian verspricht Geld und lässt die Zeit arbeiten, bis Ill vernichtet wird.
Putin führt einen mörderischen Krieg und lässt die Zeit arbeiten, bis wir nicht mehr sagen „Noch sind wir ein Europa“.
Diese Brisanz im Bezug zu unserer Zeit fehlte mir in der Inszenierung, die mit viel Beifall bedacht wurde.
NACHTKRITIK: Leserkritik: Bocksgesang (SHL, Rendsburg) #908 Reiner Schmedemann 02.02.2025 10:16
Am Samstag hatte die Tragödie „Bocksgesang“ von Franz Werfel in der Regie von Moritz Nikolaus Koch am SHL in Rendsburg Premiere. Werfels vom expressionistischen Pathos erfülltes Ideendrama wurde 1922 am Raimund-Theater in Wien uraufgeführt. Werfel definierte seinen Bocksgesang als „das ewig unerbittliche Bewusstsein vom Schöpfungsfehler, die lebendige Erkenntnis vom obersten Misslungenheitskoeffizienten und seine Korrektur“.
Themen des expressionistischen Dramas waren: die Wiedergewinnung der Innerlichkeit, die Wiederfindung des Menschen als Kreatur und die Verbrüderung aus der Solidarität des Menschseins. Die Dramen waren symbolhaft und ausdrucksstark um allgemeingültige Ideen als Weltanschauung zu vermitteln. Die Sprache war ekstatisch, eruptiv, glühend und hymnisch. Das expressionistische Theater nutzte theatralische Elemente und Kulissen mit Übertreibung und Verzerrung, um dem Publikum starke Emotionen und Ideen zu vermitteln. Wie in der Sprache war in der szenischen Gestaltung Reduktion das oberste Gebot.
Werfels Titel „Bocksgesang“ erinnert an griechische Tragödien, die aus Riten zu Ehren des Gottes Dionysos entstanden waren. Bocksgesang erzählt die Apokalypse der Erbsünde mittels metaphysischer, psychoanalytischer und revolutionärer Szenen, ohne Hoffnung auf eine innerweltliche Erlösung. Dennoch ist die Struktur des Bocksgesang bereits politisch trotz des lyrisch, philosophischen Stils und somit schon Teil der Neuen Sachlichkeit.
Der Missgestaltete (Bock) ist nicht das Symbol des Bösen, sondern das Symbol menschlichen Elends. Statt ihn als Bruder zu akzeptieren, machen ihn die Aufständischen erst zu ihrem Idol und dann zum Ungeheuer. Die betrogenen Menschen schaffen sich fantastische Kreaturen wie den „Bock – Sündenbock“ was sie von den wirklichen Feinden und vom revolutionären Kampf ablenkt. Der Missgestaltete hat noch keine politische Wirkung, was verdeutlicht, das Bocksgesang in der Übergangszeit vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit entstand.
Die Highlights des Abends waren die live gespielten Klangvariationen von Carolin Pook, die die Innerlichkeit des Geschehens ausdrucksstark kommentierte und das Programmheft von Lukas Rosenhagen, der Deutungsansätze des Stückes zur Diskussion anbot. Die Bühne von M. Weinand war am überzeugendsten in ihrer Kargheit, wenn ich mir dort mehr expressionistische Elemente gewünscht hätte. Die Kostüme in Ihrer Anlehnung an Zeit und Ort des Geschehens haben meiner Ansicht nach diesem Stück zwischen den Zeiten keinen Gefallen getan – zu folkloristisch.
Werfels „Bocksgesang“ sein zweites Drama in der Zeit zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit ist eine Chimäre, in der die Gegensätze dieser beiden Epochen nicht aufgelöst sind. Hier liegt für mich der Reiz des Stückes und die Herausforderung der Inszenierung. Moritz Nikolaus Moritz geht meiner Ansicht nach einen anderen Weg. Er erzählt die Story des Dramas und verschenkt die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Stückes. Dennoch liefert das Ensemble (M. Grahnert, I. Oehlmann, T. I. Heise, M. Maecker, R. Schleberger, A. R. Schridde, F. Ströbel, T. Wild und Statisterie) schauspielerisch eine beeindruckende Leistung ab. Dort beeindruckte mich am stärksten R. Schleberger mit seinen Rollen als Babka, Physikus, Teiterlik denen er Innerlichkeit und Empathie verlieh und Jolie Büchner, die als Kruna beeindruckend debütierte. Die gelungensten Szenen waren für mich die Forderung der Landlosen nach Land von den Großgrundbesitzern, wo der Zeitbezug zur Migrationspolitik mehr als deutlich wurde und die Szene von T. Wild und I. Oehlmann in der sie hysterisch aber befreit lachen, dass sie vom Geheimnis (Sündenbock) befreit wurden, obgleich sie alles verloren hatten.
Bocksgesang ist Ausdruck des Zögerns Werfels zwischen historischer Revolution und metaphysischer Verklärung. Diesen Konflikt spüren wir auch wieder in unserer Zeit und hier liegt für mich die Herausforderung dieses Stückes, was mir zu kurz kam.
NACHTKRITIK: Leserinnenkritiken: Das Paradies der Ungeliebten am SHL Schleswig
#901Reiner Schmedemann 16.12.2024 08:03
Am Sonntag hatte „Das Paradies der Ungeliebten“ des Wiener Autors Robert Menasse am SHLPremiere.
Dieses Auftragswerk des Burgtheaters, wurde dort nicht gespielt, weil es angeblich zu
„kabarettistisch“ und nicht „brisant“ genug war. 2006 erfolgte die UA dann in Darmstadt.
Das Stück spielt im fiktiven Dänemark wie Shakespeares „Hamlet“ und noch immer „ist etwas faul im
Staate Dänemark“. Diese „staatspolitische Fäulnis“ hat sich mittlerweile auch in Deutschland breit
gemacht.
Was kann passieren, wenn der Rechtspopulismus die Demokratie unterwandert? Oder mit den
Worten Menasses: „Es wird sich entscheiden müssen, welcher Typus Europäer die Zukunft
bestimmt: der universale Europäer oder der eindimensionale Europäer. Das heißt: ob auf diesem
Kontinent in Zukunft Menschenrecht oder Faustrecht herrscht.“
In dieser Politsatire haben Politiker keine Macht, sie verwalten Ämter. Ein hilfloser Kanzler, eine
besessene Vize, ein demagogischer, rechtspopulistischer Oppositionsführer, ein gescheiterter
Schauspieler, der auch politisch nicht überzeugt; sie alle meistern Europa nicht. Sie lassen sich
wählen aus Gier nach Macht und wälzen ihre Verantwortung auf „Sachzwänge“ ab. Ein politischer,
hitzköpfiger Verleger plant ein Attentat. Doch was ist politischer Mord, wenn die Politik tot ist? Eine
Farce oder eine Mär? „Obwohl sie gestorben sind, leben sie noch immer“. Diese Politsatire zeigt die
Demokratiedämmerung Europas und ist 18 Jahre nach der UA hoch aktuell.
Joanna Lewicka Theaterpreisträgerin („Der Faust 2024“) für beste Schauspielregie inszeniert das
Stück als bildgewaltige, surrealistische Politsatire im Zerrspiegel unserer Gegenwart. Gespielt wird in
einem düsteren, kerkerähnlichen Raum in den grüne Schlingpflanzen einwuchern und kaltes,
entlarvendes Neonlicht von der Decke strahlt (Bühne/Kostüme: Norbert Bellen). J. Lewicka setzt auf
visuelles Theater, das stark mit Bewegung, Musik (Duncan Ó Ceallaigh) und Masken arbeitet. So
erwachsen bildgewaltige Tableaus, indem sie das Tempo verlangsamt, die Poetik einzelner
Situationen ins Zentrum rückt, statt auf Handlung zu fokussieren. Es entsteht eine Inszenierung der
Reflexion, da im Zuschauer Bilder und Assoziationen erwachen, in dessen Zentrum der moderne
Mensch steht. Die Bildersprache Lewickas verleiht dem Menasse-Text emotionale Sprengkraft und
macht diese Inszenierung für den Zuschauer zur emotionalen Erfahrung. Lewicka zielt auf unser
limbisches System mit Bildern, die Emotionen erwecken und somit nachhaltige Engramme bilden. In
dieser Inszenierung wird mit Stirnlupe und Skalpell gearbeitet, um die Unzulänglichkeiten der
menschlichen Natur bloßzulegen und die perfiden Mechanismen populistischer Demagogen
freizulegen und es wird sichtbar wie schwer es wird in einer immer mehr entmenschlichten Welt
seinen Platz zu finden.
Das Ensemble (Maja Grahnert, Friederike Pasch, Dennis Habermehl, Martin Maecker, René Rollin,
Aaron Rafael Schridde und Tom Wild) sind die Garanten für diesen fantastischen Theaterabend. Sie
haben die Herausforderung angenommen – minutiös an jeder Bewegung, Geste, Mimik und
Sprachgestaltung zu arbeiten – um bildgewaltiges Theater zu erwecken, das für den Zuschauer
unmittelbar erlebbar wird. Es sei nur eines dieser gewaltigen Bilder erwähnt, die Szene vom Paradies
der Ungeliebten – einer Schlangenfarm. Der Clou der Inszenierung ist, dass Lewicka die Story der
Gefahr rechtspopulistischer Politiker von den paradiesverheißenden Bildern in den Köpfen ihrer
Follower mit Bildern erzählt.
Das Stück endet mit Shakespeare „Der Rest ist Schweigen“ und einem entzündeten Streichholz, das
erlischt – Black Out! Dieses Ende drückt Ratlosigkeit und vielleicht sogar das Unvermögen aus sich in
einer Welt demagogischer Populisten zu behaupten, sofern wir nicht bereit sind, die
paradiesverheißenden Bilder der Populisten zu hinterfragen und zu entzaubern. Das Publikum
dankte mit starkem, rhythmischem Applaus. Bravo & Merci!
NACHTKRITIK: Leserkritiken: Kalter Weißer Mann, Rendsburg
#899Reiner Schmedemann 01.12.2024 11:14
Nachdem Erfolg „Extrawurst“ von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob am SHL folgt nun deren neues Stück „Kalter Weißer Mann“. Das Stück hatte im April diesen Jahres seine Uraufführung am Renaissance-Theater in Berlin. Nun steht es auf den Brettern des SHL.
„Einmalig! Der Tod kommt nur einmal. Damit kann man leben!“ insbesondere, wenn man 94jährig friedlich einschläft, wie der Chef eines mittelständischen Bekleidungsunternehmens (Unterwäsche). Sein Nachfolger Horst Bohne, Geschäftsführer (Felix Ströbel) organisiert die Beisetzung. Doch die geplante Trauerfeier läuft aus dem Ruder, weil der Text der Trauerschleife zu heftigen Irritationen führt: „In tiefer Trauer. Deine Mitarbeiter“. Schnell hat der neue „alte weiße aber noch nicht kalte Mann“ (Felix Ströbel) seine Marketing-Leiterin Alina Bergreiter (Annika Utzelmann), den Social-Media-Chef Kevin Packert (Tomás Ignacio Heise) und seine Sekretärin Rieke Schneider (Illi Oehlmann) gegen sich und letztendlich auch die selbstbewusste Praktikantin Kim Olkowski (Julia Bella Berchtold). Vor uns, dem Theaterpublikum, als versammelte Trauergemeinde zerfleischt sich in dieser skurrilen Farce schließlich die Führungsmannschaft der Firma immer mehr und auch der verzweifelte Pfarrer Herbert Koch (Reiner Schleberger) kann die Wogen nicht glätten.
Es entfacht sich eine hoch aufgeladene Kulturdebatte über das Gendern, Sexismus und politisch korrektes Verhalten. Mit scharfem Blick und lustvoller Hingabe zeichnen die Autoren die Abgründe, Fallstricke und rhetorischen Kniffe der aktuellen Diskussion über soziale Umgangsnormen und ihre menschlich-allzu-menschlichen Ursachen. Wecken aber auch die Sehnsucht nach aufmerksamen und respektvollen Umgang miteinander.
Die Inszenierung am SHL übernimmt Jörg Gade im Bühnenbild und Kostümen von Martin Apelt. Das Bühnenbild dem Anlass angemessen eine Bestattungskapelle in grau gehaltenen Marmortönen und die Trauergemeinde in schwarzem Outfit – düster, trostlos und konventionell. Jörg Gade nimmt den Comedian Lobrecht beim Wort: „Gender-Sternchen! Super, endlich sind auch Stars wie ich mitgemeint.“ und legt einen amüsanten, teils bissigen Abend der woken Community aufs Parkett.
Gade inszeniert den Abend als temporeichen Schlagabtausch mit viel Wortwitz und verblüffenden Umkehrungen, der für beide Positionen Sympathie und Verständnis weckt – ohne zu belehren.
Herrlich F. Ströbel als Bohne, der seine traditionellen Einstellungen vom „Zipfelchen“ bis zu den „Hottentotten“ teils verzweifelt verteidigt und in jedes Fettnäpfchen, das sich ihm bietet, hineintritt und so zwischen die Fronten des aggressiv ausgetragenen Kulturkampfes gelangt. Felix Ströbel wird durch sein facettenreiches Spiel mit genialer Mimik und Gestik zum Star des Abends.
I. Ohelmann als Rieke, die von den woken Debatten so gar nichts versteht und mit ihren hinreißend dämlichen Kommentaren das Publikum zum Lachen bringt ist der zweite schauspielerische Höhepunkt des Abends, da sie die Pointen auf den Punkt setzt.
A. Utzelmann als Alina, bissig und nie um das letzte Wort verlegen, entpuppt sich als autoritäre und machtgeile Person wie die angeprangerte „alte weisse Männerwelt“.
T.I. Heise als Kevin, gibt den coolen, überzeugend woken „Instagramer“ im Fahrwasser der dominanten Alina.
J.B. Berchtold als Kim, junge Revoluzzerin und toughe Nervensäge, die sich schon als Praktikantin um ihre Work-Live-Balance sorgt.
Last but not least Reiner Schleberger als Pfarrer Koch, der mit seiner Kreuzungsgeschichte nicht zu Potte kommt.
Erneut zeigt sich: Am SHL formt sich unter der Intendantin ein Ensemble und man kann nur hoffen das diese Entwicklung weiterwächst.
Das Stück zeigt eindrucksvoll, dass nicht nur der Umgang der Geschlechter komplizierter wird, sondern auch das Minenfeld zwischen Boomern und Generation Z explosiver ist, als viele vermuten. Dennoch ist „Kalter weißer Mann“ ein amüsantes Plädoyer für mehr Gelassenheit und Toleranz. Dem Publikum hat die Gesellschaftssatire bestens gefallen.
Leserkritiken: Der Lebkuchenmann, Schleswig
#898Reiner Schmedemann25.11.2024 20:14
Vorweihnachtszeit ist Märchenzeit und dies gilt auch für das SHL, das dieses Jahr den „Lebkuchenmann“ von David Wood in einer Übersetzung von M. Harpner und A. Preissler für alle Menschen ab 5 Jahren auf die Bühne bringt.
Beachtenswert ist, dass das SHL für diese Produktion das gesamte Team (Leitung und Schauspieler*innen) als Gäste engagiert hat. Kinder- und Jugendtheater ist also nicht nur eine „lästige Aufgabe“, die vom Ensemble mit erledigt werden muss. Kinder- und Jugendtheater ist ein zentrales Anliegen des SHL, was die vier Theaterpädagogen*innen mit ihren Jugendclubs und der Betreuung der Klassenzimmerstücke ständig unter Beweis stellen.
1976 wurde das Kindermusical „Der Lebkuchenmann“ in England uraufgeführt. Dieser Kassenschlager wird nun 48 Jahre nach seiner Uraufführung am SHL gespielt.
In der Küche ist der Teufel los! Herr von Kuckuck (Jele Flügge), der Hausherr der Kuckucksuhr hat einen Frosch verschluckt und seine Stimme verloren. Nun soll er und die Uhr im Müll landen. Fräulein Pfeffer (Mara Madrid) und Herr Salz (Dominic Jarmer) bitten einen neuen Mitbewohner, den Lebkuchenmann (Lennart Naether), Herrn von Kuckuck zu helfen. Ein Löffel Honig muss besorgt werden, um Herrn von Kuckuck zu heilen. Dumm, der Honig steht im obersten Regal und wird vom alten, übellaunigen Teebeutel (Lavinia-Romana Reinke) bewacht. Der mutige Lebkuchenmann begibt sich auf die abenteuerliche Reise, um einen Löffel Honig zu stibitzen. Dabei läuft er der gefräßigen Gangstermaus Schleck (Hannah Lucie Schlewitt) in die Arme. Schafft der Lebkuchenmann es, den Herrn von Kuckuck vor dem Mülleimer zu retten, indem er seine Stimme wieder findet?
Gespielt wird in einer farbigen, überdimensionierten Küche mit Tasse, Teller, Küchenrolle, Schublade, Regal, Würfelzucker, Gewürzen, Tee, Honig und einer Postkarte mit der Aufschrift: „Im Norden ist es wie im Süden. Nur cooler!“
Die Kostüme zum Teil echte Knaller wie der Pfeffer, der auf jedem Catwalk bestanden hätte. Herr von Kuckuck ein bunter Fantasievogel und der Teebeutel alt und schrullig. Der Lebkuchenmann und die Maus schlichter und der Beweglichkeit der Rollen angepasst. Nur Salz ist sehr schlicht und etwas einfallsarm (Bühne/Kostüme: Vesna Hiltmann).
Die Inszenierung übernimmt Tim Golla und die musikalische Leitung hat Sonja Streifinger. Mit viel Schwung und Pep bringt Golla die Story auf die Bühne und die Songs sind wie Starlights am Firmament.
Schauspielerisch überzeugen vor allem durch ihre Körperlichkeit und ihre Bewegungsvielfalt L. Naether und H.L. Schlewitt. Flügge, Madrid und Reinke verkörpern herrlich chargierte Charaktere, nur Herr Salz bleibt farblos.
Action, Spannung, Spaß, Tempo und flottes Spiel fesseln die Aufmerksamkeit des jungen Publikums von 5 bis 88. Die Inszenierung schafft es Jung und Alt am Ball zu halten und ein jeder hat seinen Spaß oder seine Freude an diesem kleinen Musical. Ja das Publikum ist engagiert, denn es mischt sich immer wieder lautstark in das Geschehen auf der Bühne ein. Theater in seiner schönsten Form Akteure und Publikum interagieren miteinander und haben herrlichen Spaß.
Die Theaterpädagogik rundet dieses Theatererlebnis oder besser Aufführungserlebnis mit einer Materialmappe zur Vor- und Nachbereitung ab.
Auch mir altem noch nicht kaltem, wei(s)ßen Mann hat es Spaß bereitet.
NACHTKRITIK: Leserkritik: Alle meine Männer, Rendsburg
#884 Reiner Schmedemann 13.10.2024 13:53
Am Samstag hatte die Komödie „Alle meine Männer“ von Ray Cooney in einer Bearbeitung von M. Barfoot und der Übersetzung von F.-Th. Mende am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg Premiere.
Ray Cooney begann 1946 als Schauspieler, gründete 1983 die “Theatre of Comedy Company” in London. Cooney ist für humorvolle Komödien mit „absurder“ Komik bekannt. 1982 wurde „Run for your wife“ in London uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand im März 2024 am Theater Neubrandenburg in der Bearbeitung von M. Barfoot statt, in der aus dem Mann John die Frau Jackie wurde.
Jackie (Neele Frederike Maak), Taxifahrerin lebt den absoluten Bigamie-Traum mit zwei Ehemännern. Das Leben mit Mark (Gregor Imkamp) und Barry (Dennis Habermehl) funktioniert dank eines exakt ausgeklügelten Stundenplans. Ein Unfall und die Sorge von Mark und Barry um Jackie führen dann ins komödiantische Chaos. Jackie und ihre Freundin Stella (Karin Winkler) führen die Ehemänner und die Polizeiinspektoren (Maja Grahnert und René Rollin) in ein Labyrinth unglaublicher Ausreden und Lügen, die im Minutentakt eskalieren, bis keiner mehr durchblickt. Da werden Transvestie-Stories erlogen, Mönche beschworen, gute Feen zitiert, eigene Kinder erfunden, Lesben ins Feld geführt, um das vom Bigamie-Traum in Gefahr geratene Paradies zu retten.
Cooney´s Komödie steckt voller aberwitziger Wendungen und alle erdenklichen Klischees (Lesben, Schwule, „offene Zweierbeziehungen“, etc.) werden genutzt, um zum Schenkelklopfer zu avancieren. Nichts vom feinen britischen Humor eines Oscar Wilde´s.
Gelingt es Philippe Besson dem Regisseur und seinem Team (Bühne und Kostüme: Vinzenz Hegemann, Dramaturgie: Lukas Rosenhagen) einen Theaterabend zu kreieren, an dem kein Auge trocken bleibt?
In Hegemanns Bühne überlagern sich die Parallelwelten von Jackies Doppelleben. Das Ambiente beider Wohnungen verschmilzt zu einer. Obligatorische Türen schaffen die Grundlage für einen „Türenschwank“ mit exakten Auftritten und Abgängen. Die Kostüme entsprechen dem legeren Dresscode der frühen 70iger Jahre in „Good old Britain“. Aber die Bühne und Kostüme sind im Grunde ein Remake des Bühnenbildes der deutschen Erstaufführung.
Auch Besson bleibt dem Prinzip treu „never change a winning concept“ und inszeniert „Alle meine Männer“ als Farce: Temporeich mit Wortspielen, Unsinn, Absurdität angereichert mit Überzeichnungen, Klischees, Klamauk und der Jagd nach jedem zu ergatternden Lacher. Er gibt dem Affen Zucker! Der Funke zündet und das Publikum amüsiert sich köstlich.
Doch Garanten für diesen Erfolg sind die Schauspieler*innen. N.F. Maak und K. Winkler, die sich nichts schenken. Beide geben Vollgas und provozieren die Lacher mit Mimik, Gestik und vollem körperlichen Einsatz und keine Platitude ist zu schlicht, wenn der Lacher folgt. A.R. Schridde als schwuler Bobby erfüllt alle Klischees dieser Rolle und wird mit zum Liebling des Abends. R. Rollin provoziert mit seiner zurückhaltenden Art durch trockene Überraschungsäußerungen Lacher und Szenenapplaus. Die Männer Mark und Barry bleiben recht farblos, da hätte die Regie wirksamer sein können, denn G. Imkamp und D. Habermehl haben ihr komödiantisches Talent schon mehrfach unter Beweis gestellt.
Das Konzept ist aufgegangen: Spritzige Unterhaltung mit Allem, was Lacher provoziert, und das Publikum dankte mit stürmischen Applaus. Dank dem Ensemble für ihren Spaß an diesem Klamauk, der sicher volle Kassen bringt. Merci & Chapeau dem Ensemble.
Theater ist eben auch ein Wirtschaftsfaktor, der auch auf Zuschauerzahlen schauen muss. Solange der Spielplan ausgewogen bleibt und alle Genres bedient, um unterschiedliche Publikumswünsche zu erfüllen – fantastisch, doch etwas mehr Mut in Bezug auf mittlerweile Klassiker wie E. Jelinek oder S. Kane, würde auch einem Landestheater nicht schaden. Mit dieser Idee könnte man sich mal für die nächste Spielzeit befassen, denn auch dort gibt es noch Publikumsressourcen, die man für das Theater gewinnen kann.
Nachtkritik: Leser*innenkritik: Dorfpunks, Schleswig, Wiederaufnahme in 2024 / 2025
#873 Reiner Schmedemann 06.07.2024 11:24
Das SHL beendet seine Schauspielsaison 2023/24 mit der Inszenierung „DORFPUNKS“ von M.N. Koch nach dem Roman von Rocko Schamoni.
Der Roman erschien 2004, 2008 inszenierte Studio Braun (Jacques Palminger, Heinz Strunk und Rocko Schamoni) am Schauspielhaus Hamburg „Dorfpunks – Die Blüten der Gewalt“ und 2009 erschien die Verfilmung des Buches von Lars Jessen.
Der autobiografische Roman erzählt die Lebensgeschichte Roddy´s (D. Habermehl) aus der Ich-Perspektive vom 12. – 22. Lebensjahr in einem fiktiven Dorf in Schleswig-Holstein. Seine Eltern – Lehrer – die ihren Traum ein altes Bauernhaus zu renovieren, leben. Als Fremdling muss sich Roddy in die Dorfgemeinschaft einfügen. Mit Gleichgesinnten gründet er eine Punkband, bricht die Schule ab und macht eine Töpferlehre auf Wunsch seiner Mutter, bevor er in die weite Welt aufbricht. Schamoni beschreibt das Lebensgefühl Jugendlicher in den 70iger und 80iger Jahren. Es ist die Odyssee Roddy´s durch die Irrungen und Wirrungen der Pubertät in denen er sich von den Lebensidealen seiner Eltern und seiner „Helikopter Mutter“ löst. Dies gelingt mittels der Musik: Hardrock, Punkrock und dem Jugendtsunami Punk der in England ausgebrochen bis in die dörfliche Idylle Schleswig-Holsteins schwappte.
Till Briegleb schrieb in der Süddeutschen Zeitung 2008 : „Theaterpunks“ sei die treffende Bezeichnung für all jene, die, wie Schorsch Kamerun, Christoph Schlingensief, Rene Pollesch oder eben Studio Braun „mit einer unglaublichen Begeisterung für Verkleidungen ihr altes stachliges Weltbild in eine ironische Kunstsprache gerettet haben“. Die sprudelnde Fantasie der drei Regisseure von „Dorfpunks“ lasse Schamonis „trist-komische Originalerzählung“ auf der Bühne wirken, als sei „die Augsburger Puppenkiste auf LSD“. Nur wenn die „Klischeevorlagen“ nicht mehr „getoppt“ werden könnten, verebbe das „Kasperletheater“ vorübergehend. „Doch wenn die mitgebrachten Nichtschauspieler und die drei Kostümpunks selbst hemmungslos werden und sich um keine Theaterkonvention mehr scheren, gelingt Studio Braun eine ansteckende Satire auf den Erlebniszwang und die Depressionen im globalen Dorf.“
M.N. Koch weiß um die Möglichkeiten des Landestheaters und lässt somit alles im Probenkeller einer Punkband spielen (Bühne und Kostüme: M. Weinand). Koch setzt voll und ganz auf ein junges, spielwütiges Ensemble (D. Habermehl, N.F. Maak, S.R. Scholz und A.R. Schridde) und der Plot gelingt. Habermehl spielt Roddy und führt als Erzähler durch die einzelnen Stationen des Stückes. Gespielt wird schrecklich, schöner Punkrock, gekonnt einstudiert und improvisiert von den Akteuren. Koch fängt das Lebensgefühl der 70iger und 80iger Jahre mit ironischen, satirischen Bildern ein und so mancher Zuschauer*in jenseits der sechzig hat an diesem Abend so manches „Déjà-vu“ Erlebnis. Spaß ist das Motto des Abends aber nicht kritiklos.
Glanzpunkte des Abends sind N.M. Maak mit ihrem schnoddrigen, plattdeutschen Slang und zielsicher gesetzten Pointen, A.R. Schridde als David Bowie und S.R. Scholz als Tante Käthe und Riesenschnauzer Rasmus. Gag jagt Gag und Klischee jagt Klischee untermalt von gekonnt talentlosem Punkrock. Dieser Abend ist ein furioser Abschied des Schauspiels in die Sommerpause. Nonsens nicht frei von Kritik und voller Lebensfreude. M.N. Koch und das fantastisch aufspielende Ensemble haben den Punktsunami für 90ig Minuten aufleben lassen.
Die taz schrieb damals zur Dorfpunk-Inszenierung von Studio Braun „lustiger als hierzulande erlaubt und ernster als hierzulande gewünscht“, dem kann ich mich immer noch anschließen bei dieser Inszenierung von M.N. Koch. Ein gelungenes Revival eines Lebensgefühls, das für Großteile des Publikums mehr als fünfzig Jahre zurück liegt.
Als Zugabe dann noch das Blockflöten-Quartett „Blockflöten des Todes“ und der Saal tobte. Perfekte Unterhaltung – Merci & Chapeau.
NACHTKRITIK: Leserkritik: Der Untertan, Rendsburg
#881 Reiner Schmedemann 22.09.2024 00:51
Am Samstag feierte das SHL sein 50jähriges Bestehen mit dem „Untertan“ nach dem Roman von Heinrich Mann in der Bühnenfassung von Wolfgang Hofmann, der auch Regie führte.
„Der Untertan“ im Stil des deutschen Bildungsromans schildert den Werdegang eines aufgeklärten Individuums. In Heßlings Fall wird dieser Romantypus satirisch umgekehrt, indem an die Stelle einer individuellen reifen Persönlichkeitsentwicklung eine hörige Untertanenmentalität tritt. Dieser gesellschaftssatirische Roman zeigt gesellschaftliche Missstände mittels Ironie, Spott und Übertreibung auf. H. Mann hat vor Aufkommen des Faschismus im „Untertan“ den Typus des Macht geilen Treters und Duckmäusers skizziert. In Notizen beschrieb H. Mann seinen „Untertan“ als: „widerwärtig interessanten Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters und des Autoritätsgläubigen wider besseren Wissen.“
M. Apelts Bühne ein mit dunklen Holzpanelen verkleideter, saalartiger Raum an dessen Stirnseite ein Fenster mit Reichsadler den Blick auf sich zieht. Die dunklen Kostüme entsprechen der Zeit. Die Bühne dunkel im Ton spiegelt den Kunstgeschmack der deutschen, konservativen Kaiserzeit. Dieser Bühnenraum ein Menetekel, das im Laufe des Abends Realität wird.
Heßling (Tomás Ignacio Heise) wächst als „weiches“ Kind in der Provinz unter den strengen Augen seines Vaters auf und lernt schnell, sich den wilhelminischen Autoritäten zu fügen, wenn es ihm Vorteil bringt. Er studiert im extravaganten Berlin, wo ihn Burschenschaftler – kaisertreue Nationalisten – buckeln und treten lehren. Nach dem Tod des Vaters kehrt er in die Kleinstadt zurück. Ständig nach Anerkennung heischend, steigt er durch intrigantes und manipulatives Verhalten zum skrupellosen Fabrikbesitzer auf. Nach oben buckelnd und nach unten tretend wird er zum Rädchen im Getriebe des aufsteigenden Nationalismus. Mittels Verleumdung, Schmeichelei und Erpressung schafft er eine Stimmung aus Neid, Missgunst und Hurrapatriotismus.
Hofmann erzählt diese Story sehr stringent, was zur Härte des Textes passt. 95% des Textes sind Originalton H. Mann, so dass Manns feiner Spott in seiner satirischen und ironischen Sprache aufblitzt. Die restlichen 5% stammen aus Kafka-Texten, Himmler- und Hitler-Zitaten sowie dem AfD-Programm. Beängstigend, dass diese Einschübe kaum auffallen und wir uns die Frage stellen müssen: Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?
Die musikalische Untermalung mit deutschem Liedgut, das die Thematik der Szenen aufgreift, durch die Lübecker Gesangsformation FourTune als Liedertafel Netzig ist brillant, da sie die stringente Spielweise des Ensembles atmosphärisch auflädt. W. Hofmann verbindet die Szenen nahezu übergangslos zu einem Höllenritt in den Abgrund, was gelingt, da das Ensemble präzise und hoch konzentriert spielt. Der Abend glänzt mit humoristischen und karikativen Szenen wie z.B. zwischen Heßling und dem Arzt Heuteufel (T. Wild) oder die Szene zwischen Guste (A. Utzelmann) und Heßling.
T.I. Heise gibt Heßling zunächst weich und weinerlich und allem hörig, was ihm Macht verspricht, und entwickelt sich stetig zum machtgeilen Opportunisten. Heise zeichnet ein klares Bild der Wandlung vom schüchternen, autoritätsgläubigen Jungen hin zum rücksichtslosen Karrieristen und Machtmenschen, mit karikativen Zügen. Diese Dualität aus Unterwerfung und Unterdrückung behält Heise bis zum Ende bei. Aus fehlender Selbstachtung geht er im unpersönlichen Ganzen auf, da ihm die Masse die Bestätigung und Orientierung gibt, der er folgt. Einen eigenen inneren Kompass hat er nicht, er folgt stets der Macht.
H. Mann zeichnet seinen Untertan als typischen Opportunisten und übt Kritik an der Obrigkeitshörig-, sowie der Untertänigkeit der Deutschen, was nach diesem Abend bis in die Gegenwart ausstrahlt. Sonntag wird in Brandenburg gewählt!
Ein gelungener Start in die Spielzeit 2024/25, der vom Publikum bejubelt wurde.
NACHTKRITIK, Leserkritik: Vorhang Auf, S.-H. Landestheater
#879 Reiner Schmedemann 09.09.2024 12:52
„Vorhang Auf“ zur fünfzigsten Jubiläumsspielzeit des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters & Sinfonieorchesters
Das SHL eröffnete seine Jubiläumsspielzeit 2024/25 mit einem Festakt, der im Wesentlichen durch musikalische Darbietungen des Orchesters und des musikalischen Ensembles gestaltet wurde. Die Generalintendantin Frau Dr. Ute Lemm führte durch den Abend.
Frau Karin Prien, Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur in Schleswig-Holstein dankte in ihrer Laudatio für die engagierte und vielgestaltige Arbeit des SHLs und den unermüdlichen Einsatz des Theaters im Bereich der Theaterpädagogik, die Kultur in Kitas und Schulen trägt und somit einen wesentlichen Part der kulturellen Bildung übernimmt. Sie schloss ihre Laudatio mit einem klaren Statement zur Unterstützung des neuen Kulturhauses in Schleswig, auf deren Einweihung sie sich 2026 freut.
Frau Janet Sönnichsen, Bürgermeisterin der Stadt Rendsburg und Aufsichtsratsvorsitzende der Landestheater-GmbH dankte nicht nur dem SHL für 50 Jahre empathisches Engagement sondernd im Besonderen auch den zahlreichen Gesellschaftern der GmbH, die dieses Experiment Landestheater mit zum Erfolg geführt haben.
Die Grußworte von Herrn Dr. Joachim Benclowitz, Geschäftsführer des Landesverbandes Nord im Deutschen Bühnenverein, blieben farblos. Hier hätte man sich mehr Enthusiasmus in der Würdigung 50jähriger Theaterarbeit von einem Vertreter des Deutschen Bühnenvereines gewünscht.
Frau Dr. Lemm dankte ihren Vorgängern Herrn Dr. Mesalla, Herrn Grosse und Herrn Grisebach und deren unermüdlichen Einsatz das SHL zu einem Erfolgsmodell zu machen, dem Pessimisten zu Beginn bestenfalls eine Überlebenszeit von 2 bis 3 Jahren prophezeit hatten. Sie dankte den Gesellschaftern für solidarische Unterstützung, allen Beschäftigten des SHLs, ohne die diese 50 Jahre nicht möglich gewesen wären und dem Publikum, das seinem Theater die Treue gehalten hat.
Das Rahmenprogramm wurde von allen künstlerischen Sparten des SHLs gestaltet. Den Schwerpunkt übernahmen das Sinfonieorchester und das musikalische Ensemble mit Werken von Prokofjew, Humperdinck, Weill, Grieg, Beer und J. Strauß. Sie begeisterten mit ihren Darbietungen das vollbesetzte Haus. Frau Langmack verzauberte mit ihrem Puppenspiel, das von M. Grosse ins Leben gerufen wurde. J. Wischmeyer und R. Schlingmann gaben eine Kostprobe ihrer Kinderkonzerte. Das Ballett zeigte nach der Pause das Stück „HAUTNAH“ und das Schauspielensemble brachte Historisches zur Entstehung der Theater in Flensburg, Rendsburg und Schleswig.
So eröffnete das SHL seine Jubiläumsspielzeit 2024/25, die unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Daniel Günther steht, mit einem bunten Reigen von Darbietungen aus allen Abteilungen des Hauses, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden und mit frenetischem Applaus und „Standing Ovation“ gefeiert wurden.
Der Abend endete mit einem Empfang des SHLs in den Foyers des Theaters und ich wünsche dem SHL viel Erfolg auf dem Weg ins ganze Jahrhundert.
NACHTKRITIK, Leserkritik: Prima Facie, S.-H. Landestheater
#839 Reiner Schmedemann 09.02.2024 10:35
PRIMA FACIE der MeToo-Monolog von S. Miller (Juristin und Dramatikerin) in der Übersetzung von A. Rabe steht derzeit auf dem Spielplan des SHL und wird auch als „mobiles theater“ für Schulen angeboten.
Millers PRIMA FACIE (Lat. dem ersten Anschein nach) ist eine feministische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem, in der die Frage gestellt wird, ob mit einer Reform des Sexualstrafrechts bereits alles getan wäre, um Opfern sexueller Gewalt gerecht zu werden. Die Komplexität von Recht und Gerechtigkeit im Kontext sexueller Gewalt wird dargestellt und fordert zum Nachdenken über die Realität von Tätern und Opfern auf. PRIMA FACIE macht die patriarchale Macht der Justiz anhand eines Falles auf beeindruckende, einfühlsame Weise sichtbar.
Ein brandaktueller Monolog, da auch die BRD eine EU-Richtlinie (seit 2022) zur europäischen Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts blockiert, in der „Sex ohne Zustimmung“ als Vergewaltigung definiert wird und somit nur ein „JA“ zur Straffreiheit führt und nicht ein „NEIN“ wie im deutschen Strafrecht. Die BRD blockiert, da die EU nur Straftaten einheitlich regeln darf, die im Katalog besonders schwerer Straftaten aufgeführt sind und Vergewaltigung bisher nicht dazu gehört.
Neele F. Maak spielt die Anwältin Tessa in der Regie von S. Streifinger. Tessa hat es geschafft aus einer unteren sozialen Schicht in einer renommierten Kanzlei zur Top-Strafverteidigerin aufzusteigen. Sie verteidigt Männer, die wegen sexueller Straftaten angezeigt wurden. Tessa nimmt Zeuginnen der Anklage systematisch ins Verhör, um Zweifel am sexuellen Vergehen – im Sinne ihrer Mandanten -offenzulegen; denn „er wusste nicht, dass es kein Einvernehmen gab“. Sie reiht gewonnene Fälle aneinander, bis sie zum Opfer eines sexuellen Übergriffes wird. Nun wird sie mit Erfahrungen konfrontiert, die ihre Selbstbestimmtheit in Frage stellen. Sie erstattet Anzeige und findet sich vor Gericht als Klägerin wieder. Von der Strafverteidigerin ist sie zur Zeugin der Anklage geworden, deren Aussagen angezweifelt werden und solange Zweifel an der Tat bestehen, reichen ihre Aussagen nicht, um den Täter zu verurteilen.
Auf fast leerer Bühne stehen ein Tisch, Stuhl und Akten. Tessa ist in einen grauen Hosenanzug mit weißer Bluse gekleidet. Tessa (N.F. Maak) ist als Strafverteidigerin, zunächst die knallharte Verfechterin des geltenden Rechtssystems. Später durchlebt sie als Klägerin die Angst der Wiederbegegnung mit dem Täter, die Selbstzweifel, das endlose Warten auf den Prozess, die Demütigungen der Befragungen bis hin zur Retraumatisierung.
N.F. Maak bringt all diese Facetten Tessas überzeugend und ins Mark treffend auf die Bühne, da sie es nicht scheut ständig an Grenzen zu gehen und sich und die Zuschauenden nicht zu schonen. Zunächst der kämpferische Profi, der seine Triumphe zelebriert, mit Arroganz, Überheblichkeit und sich für unschlagbar hält. Das gnadenlose, retraumatisierende Kreuz-Verhör ihre schärfste Waffe. Dann die Wandlung zum verletzlichen Menschen, der selbst dem vertrauten Justizsystem nicht gewachsen ist, bis hin zur alten Stärke, um mit Empathie das System zu ändern.
All diese Phasen durchlebt man mit Tessa, da N.F. Maak immer authentisch und überzeugend agiert. Maak versteht es durch ihr variables, erschütterndes Spiel den Zuschauer diese Entwicklung Tessas miterleben zu lassen.
Diese außergewöhnliche, schauspielerische Leistung schafft nachhaltige Wirkung beim Zuschauen und begreift, dass weibliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt nicht in ein männlich geprägtes Strafrecht passen. Dieser Leidensweg sexuell missbrauchter Frauen verdeutlicht, warum die Dunkelziffer bei Sexualstraftaten hoch ist und viele sexuelle Übergriffe nicht zur Anzeige kommen, da die Opfer es nicht ertragen. Dieser Monolog ist ein Plädoyer für besseren Schutz sexuell missbrauchter Frauen im Rechtssystem und man kann nur hoffen, dass die geplante EU-Richtlinie zum Sexualstrafrecht doch noch umgesetzt wird.