NACHTKRITIK: Leserkritiken: Kalter Weißer Mann, Rendsburg
#899Reiner Schmedemann 01.12.2024 11:14

Nachdem Erfolg „Extrawurst“ von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob am SHL folgt nun deren neues Stück „Kalter Weißer Mann“. Das Stück hatte im April diesen Jahres seine Uraufführung am Renaissance-Theater in Berlin. Nun steht es auf den Brettern des SHL.
„Einmalig! Der Tod kommt nur einmal. Damit kann man leben!“ insbesondere, wenn man 94jährig friedlich einschläft, wie der Chef eines mittelständischen Bekleidungsunternehmens (Unterwäsche). Sein Nachfolger Horst Bohne, Geschäftsführer (Felix Ströbel) organisiert die Beisetzung. Doch die geplante Trauerfeier läuft aus dem Ruder, weil der Text der Trauerschleife zu heftigen Irritationen führt: „In tiefer Trauer. Deine Mitarbeiter“. Schnell hat der neue „alte weiße aber noch nicht kalte Mann“ (Felix Ströbel) seine Marketing-Leiterin Alina Bergreiter (Annika Utzelmann), den Social-Media-Chef Kevin Packert (Tomás Ignacio Heise) und seine Sekretärin Rieke Schneider (Illi Oehlmann) gegen sich und letztendlich auch die selbstbewusste Praktikantin Kim Olkowski (Julia Bella Berchtold). Vor uns, dem Theaterpublikum, als versammelte Trauergemeinde zerfleischt sich in dieser skurrilen Farce schließlich die Führungsmannschaft der Firma immer mehr und auch der verzweifelte Pfarrer Herbert Koch (Reiner Schleberger) kann die Wogen nicht glätten.
Es entfacht sich eine hoch aufgeladene Kulturdebatte über das Gendern, Sexismus und politisch korrektes Verhalten. Mit scharfem Blick und lustvoller Hingabe zeichnen die Autoren die Abgründe, Fallstricke und rhetorischen Kniffe der aktuellen Diskussion über soziale Umgangsnormen und ihre menschlich-allzu-menschlichen Ursachen. Wecken aber auch die Sehnsucht nach aufmerksamen und respektvollen Umgang miteinander.

Die Inszenierung am SHL übernimmt Jörg Gade im Bühnenbild und Kostümen von Martin Apelt. Das Bühnenbild dem Anlass angemessen eine Bestattungskapelle in grau gehaltenen Marmortönen und die Trauergemeinde in schwarzem Outfit – düster, trostlos und konventionell. Jörg Gade nimmt den Comedian Lobrecht beim Wort: „Gender-Sternchen! Super, endlich sind auch Stars wie ich mitgemeint.“ und legt einen amüsanten, teils bissigen Abend der woken Community aufs Parkett.
Gade inszeniert den Abend als temporeichen Schlagabtausch mit viel Wortwitz und verblüffenden Umkehrungen, der für beide Positionen Sympathie und Verständnis weckt – ohne zu belehren.
Herrlich F. Ströbel als Bohne, der seine traditionellen Einstellungen vom „Zipfelchen“ bis zu den „Hottentotten“ teils verzweifelt verteidigt und in jedes Fettnäpfchen, das sich ihm bietet, hineintritt und so zwischen die Fronten des aggressiv ausgetragenen Kulturkampfes gelangt. Felix Ströbel wird durch sein facettenreiches Spiel mit genialer Mimik und Gestik zum Star des Abends.
I. Ohelmann als Rieke, die von den woken Debatten so gar nichts versteht und mit ihren hinreißend dämlichen Kommentaren das Publikum zum Lachen bringt ist der zweite schauspielerische Höhepunkt des Abends, da sie die Pointen auf den Punkt setzt.
A. Utzelmann als Alina, bissig und nie um das letzte Wort verlegen, entpuppt sich als autoritäre und machtgeile Person wie die angeprangerte „alte weisse Männerwelt“.
T.I. Heise als Kevin, gibt den coolen, überzeugend woken „Instagramer“ im Fahrwasser der dominanten Alina.
J.B. Berchtold als Kim, junge Revoluzzerin und toughe Nervensäge, die sich schon als Praktikantin um ihre Work-Live-Balance sorgt.
Last but not least Reiner Schleberger als Pfarrer Koch, der mit seiner Kreuzungsgeschichte nicht zu Potte kommt.
Erneut zeigt sich: Am SHL formt sich unter der Intendantin ein Ensemble und man kann nur hoffen das diese Entwicklung weiterwächst.

Das Stück zeigt eindrucksvoll, dass nicht nur der Umgang der Geschlechter komplizierter wird, sondern auch das Minenfeld zwischen Boomern und Generation Z explosiver ist, als viele vermuten. Dennoch ist „Kalter weißer Mann“ ein amüsantes Plädoyer für mehr Gelassenheit und Toleranz. Dem Publikum hat die Gesellschaftssatire bestens gefallen.

NACHTKRITIK: Leserkritik: Alle meine Männer, Rendsburg
#884 Reiner Schmedemann 13.10.2024 13:53

Am Samstag hatte die Komödie „Alle meine Männer“ von Ray Cooney in einer Bearbeitung von M. Barfoot und der Übersetzung von F.-Th. Mende am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg Premiere.

Ray Cooney begann 1946 als Schauspieler, gründete 1983 die “Theatre of Comedy Company” in London. Cooney ist für humorvolle Komödien mit „absurder“ Komik bekannt. 1982 wurde „Run for your wife“ in London uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand im März 2024 am Theater Neubrandenburg in der Bearbeitung von M. Barfoot statt, in der aus dem Mann John die Frau Jackie wurde.

Jackie (Neele Frederike Maak), Taxifahrerin lebt den absoluten Bigamie-Traum mit zwei Ehemännern. Das Leben mit Mark (Gregor Imkamp) und Barry (Dennis Habermehl) funktioniert dank eines exakt ausgeklügelten Stundenplans. Ein Unfall und die Sorge von Mark und Barry um Jackie führen dann ins komödiantische Chaos. Jackie und ihre Freundin Stella (Karin Winkler) führen die Ehemänner und die Polizeiinspektoren (Maja Grahnert und René Rollin) in ein Labyrinth unglaublicher Ausreden und Lügen, die im Minutentakt eskalieren, bis keiner mehr durchblickt. Da werden Transvestie-Stories erlogen, Mönche beschworen, gute Feen zitiert, eigene Kinder erfunden, Lesben ins Feld geführt, um das vom Bigamie-Traum in Gefahr geratene Paradies zu retten.

Cooney´s Komödie steckt voller aberwitziger Wendungen und alle erdenklichen Klischees (Lesben, Schwule, „offene Zweierbeziehungen“, etc.) werden genutzt, um zum Schenkelklopfer zu avancieren. Nichts vom feinen britischen Humor eines Oscar Wilde´s.

Gelingt es Philippe Besson dem Regisseur und seinem Team (Bühne und Kostüme: Vinzenz Hegemann, Dramaturgie: Lukas Rosenhagen) einen Theaterabend zu kreieren, an dem kein Auge trocken bleibt?

In Hegemanns Bühne überlagern sich die Parallelwelten von Jackies Doppelleben. Das Ambiente beider Wohnungen verschmilzt zu einer. Obligatorische Türen schaffen die Grundlage für einen „Türenschwank“ mit exakten Auftritten und Abgängen. Die Kostüme entsprechen dem legeren Dresscode der frühen 70iger Jahre in „Good old Britain“. Aber die Bühne und Kostüme sind im Grunde ein Remake des Bühnenbildes der deutschen Erstaufführung.
Auch Besson bleibt dem Prinzip treu „never change a winning concept“ und inszeniert „Alle meine Männer“ als Farce: Temporeich mit Wortspielen, Unsinn, Absurdität angereichert mit Überzeichnungen, Klischees, Klamauk und der Jagd nach jedem zu ergatternden Lacher. Er gibt dem Affen Zucker! Der Funke zündet und das Publikum amüsiert sich köstlich.

Doch Garanten für diesen Erfolg sind die Schauspieler*innen. N.F. Maak und K. Winkler, die sich nichts schenken. Beide geben Vollgas und provozieren die Lacher mit Mimik, Gestik und vollem körperlichen Einsatz und keine Platitude ist zu schlicht, wenn der Lacher folgt. A.R. Schridde als schwuler Bobby erfüllt alle Klischees dieser Rolle und wird mit zum Liebling des Abends. R. Rollin provoziert mit seiner zurückhaltenden Art durch trockene Überraschungsäußerungen Lacher und Szenenapplaus. Die Männer Mark und Barry bleiben recht farblos, da hätte die Regie wirksamer sein können, denn G. Imkamp und D. Habermehl haben ihr komödiantisches Talent schon mehrfach unter Beweis gestellt.
Das Konzept ist aufgegangen: Spritzige Unterhaltung mit Allem, was Lacher provoziert, und das Publikum dankte mit stürmischen Applaus. Dank dem Ensemble für ihren Spaß an diesem Klamauk, der sicher volle Kassen bringt. Merci & Chapeau dem Ensemble.
Theater ist eben auch ein Wirtschaftsfaktor, der auch auf Zuschauerzahlen schauen muss. Solange der Spielplan ausgewogen bleibt und alle Genres bedient, um unterschiedliche Publikumswünsche zu erfüllen – fantastisch, doch etwas mehr Mut in Bezug auf mittlerweile Klassiker wie E. Jelinek oder S. Kane, würde auch einem Landestheater nicht schaden. Mit dieser Idee könnte man sich mal für die nächste Spielzeit befassen, denn auch dort gibt es noch Publikumsressourcen, die man für das Theater gewinnen kann.

NACHTKRITIK: Leserkritik: Der Untertan, Rendsburg
#881 Reiner Schmedemann 22.09.2024 00:51

Am Samstag feierte das SHL sein 50jähriges Bestehen mit dem „Untertan“ nach dem Roman von Heinrich Mann in der Bühnenfassung von Wolfgang Hofmann, der auch Regie führte.
„Der Untertan“ im Stil des deutschen Bildungsromans schildert den Werdegang eines aufgeklärten Individuums. In Heßlings Fall wird dieser Romantypus satirisch umgekehrt, indem an die Stelle einer individuellen reifen Persönlichkeitsentwicklung eine hörige Untertanenmentalität tritt. Dieser gesellschaftssatirische Roman zeigt gesellschaftliche Missstände mittels Ironie, Spott und Übertreibung auf. H. Mann hat vor Aufkommen des Faschismus im „Untertan“ den Typus des Macht geilen Treters und Duckmäusers skizziert. In Notizen beschrieb H. Mann seinen „Untertan“ als: „widerwärtig interessanten Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters und des Autoritätsgläubigen wider besseren Wissen.“

M. Apelts Bühne ein mit dunklen Holzpanelen verkleideter, saalartiger Raum an dessen Stirnseite ein Fenster mit Reichsadler den Blick auf sich zieht. Die dunklen Kostüme entsprechen der Zeit. Die Bühne dunkel im Ton spiegelt den Kunstgeschmack der deutschen, konservativen Kaiserzeit. Dieser Bühnenraum ein Menetekel, das im Laufe des Abends Realität wird.

Heßling (Tomás Ignacio Heise) wächst als „weiches“ Kind in der Provinz unter den strengen Augen seines Vaters auf und lernt schnell, sich den wilhelminischen Autoritäten zu fügen, wenn es ihm Vorteil bringt. Er studiert im extravaganten Berlin, wo ihn Burschenschaftler – kaisertreue Nationalisten – buckeln und treten lehren. Nach dem Tod des Vaters kehrt er in die Kleinstadt zurück. Ständig nach Anerkennung heischend, steigt er durch intrigantes und manipulatives Verhalten zum skrupellosen Fabrikbesitzer auf. Nach oben buckelnd und nach unten tretend wird er zum Rädchen im Getriebe des aufsteigenden Nationalismus. Mittels Verleumdung, Schmeichelei und Erpressung schafft er eine Stimmung aus Neid, Missgunst und Hurrapatriotismus.

Hofmann erzählt diese Story sehr stringent, was zur Härte des Textes passt. 95% des Textes sind Originalton H. Mann, so dass Manns feiner Spott in seiner satirischen und ironischen Sprache aufblitzt. Die restlichen 5% stammen aus Kafka-Texten, Himmler- und Hitler-Zitaten sowie dem AfD-Programm. Beängstigend, dass diese Einschübe kaum auffallen und wir uns die Frage stellen müssen: Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?
Die musikalische Untermalung mit deutschem Liedgut, das die Thematik der Szenen aufgreift, durch die Lübecker Gesangsformation FourTune als Liedertafel Netzig ist brillant, da sie die stringente Spielweise des Ensembles atmosphärisch auflädt. W. Hofmann verbindet die Szenen nahezu übergangslos zu einem Höllenritt in den Abgrund, was gelingt, da das Ensemble präzise und hoch konzentriert spielt. Der Abend glänzt mit humoristischen und karikativen Szenen wie z.B. zwischen Heßling und dem Arzt Heuteufel (T. Wild) oder die Szene zwischen Guste (A. Utzelmann) und Heßling.
T.I. Heise gibt Heßling zunächst weich und weinerlich und allem hörig, was ihm Macht verspricht, und entwickelt sich stetig zum machtgeilen Opportunisten. Heise zeichnet ein klares Bild der Wandlung vom schüchternen, autoritätsgläubigen Jungen hin zum rücksichtslosen Karrieristen und Machtmenschen, mit karikativen Zügen. Diese Dualität aus Unterwerfung und Unterdrückung behält Heise bis zum Ende bei. Aus fehlender Selbstachtung geht er im unpersönlichen Ganzen auf, da ihm die Masse die Bestätigung und Orientierung gibt, der er folgt. Einen eigenen inneren Kompass hat er nicht, er folgt stets der Macht.

H. Mann zeichnet seinen Untertan als typischen Opportunisten und übt Kritik an der Obrigkeitshörig-, sowie der Untertänigkeit der Deutschen, was nach diesem Abend bis in die Gegenwart ausstrahlt. Sonntag wird in Brandenburg gewählt!
Ein gelungener Start in die Spielzeit 2024/25, der vom Publikum bejubelt wurde.