Nachtkritik: Leser*innenkritik: Dorfpunks, Schleswig, Wiederaufnahme in 2024 / 2025
#873 Reiner Schmedemann 06.07.2024 11:24
Das SHL beendet seine Schauspielsaison 2023/24 mit der Inszenierung „DORFPUNKS“ von M.N. Koch nach dem Roman von Rocko Schamoni.
Der Roman erschien 2004, 2008 inszenierte Studio Braun (Jacques Palminger, Heinz Strunk und Rocko Schamoni) am Schauspielhaus Hamburg „Dorfpunks – Die Blüten der Gewalt“ und 2009 erschien die Verfilmung des Buches von Lars Jessen.
Der autobiografische Roman erzählt die Lebensgeschichte Roddy´s (D. Habermehl) aus der Ich-Perspektive vom 12. – 22. Lebensjahr in einem fiktiven Dorf in Schleswig-Holstein. Seine Eltern – Lehrer – die ihren Traum ein altes Bauernhaus zu renovieren, leben. Als Fremdling muss sich Roddy in die Dorfgemeinschaft einfügen. Mit Gleichgesinnten gründet er eine Punkband, bricht die Schule ab und macht eine Töpferlehre auf Wunsch seiner Mutter, bevor er in die weite Welt aufbricht. Schamoni beschreibt das Lebensgefühl Jugendlicher in den 70iger und 80iger Jahren. Es ist die Odyssee Roddy´s durch die Irrungen und Wirrungen der Pubertät in denen er sich von den Lebensidealen seiner Eltern und seiner „Helikopter Mutter“ löst. Dies gelingt mittels der Musik: Hardrock, Punkrock und dem Jugendtsunami Punk der in England ausgebrochen bis in die dörfliche Idylle Schleswig-Holsteins schwappte.
Till Briegleb schrieb in der Süddeutschen Zeitung 2008 : „Theaterpunks“ sei die treffende Bezeichnung für all jene, die, wie Schorsch Kamerun, Christoph Schlingensief, Rene Pollesch oder eben Studio Braun „mit einer unglaublichen Begeisterung für Verkleidungen ihr altes stachliges Weltbild in eine ironische Kunstsprache gerettet haben“. Die sprudelnde Fantasie der drei Regisseure von „Dorfpunks“ lasse Schamonis „trist-komische Originalerzählung“ auf der Bühne wirken, als sei „die Augsburger Puppenkiste auf LSD“. Nur wenn die „Klischeevorlagen“ nicht mehr „getoppt“ werden könnten, verebbe das „Kasperletheater“ vorübergehend. „Doch wenn die mitgebrachten Nichtschauspieler und die drei Kostümpunks selbst hemmungslos werden und sich um keine Theaterkonvention mehr scheren, gelingt Studio Braun eine ansteckende Satire auf den Erlebniszwang und die Depressionen im globalen Dorf.“
M.N. Koch weiß um die Möglichkeiten des Landestheaters und lässt somit alles im Probenkeller einer Punkband spielen (Bühne und Kostüme: M. Weinand). Koch setzt voll und ganz auf ein junges, spielwütiges Ensemble (D. Habermehl, N.F. Maak, S.R. Scholz und A.R. Schridde) und der Plot gelingt. Habermehl spielt Roddy und führt als Erzähler durch die einzelnen Stationen des Stückes. Gespielt wird schrecklich, schöner Punkrock, gekonnt einstudiert und improvisiert von den Akteuren. Koch fängt das Lebensgefühl der 70iger und 80iger Jahre mit ironischen, satirischen Bildern ein und so mancher Zuschauer*in jenseits der sechzig hat an diesem Abend so manches „Déjà-vu“ Erlebnis. Spaß ist das Motto des Abends aber nicht kritiklos.
Glanzpunkte des Abends sind N.M. Maak mit ihrem schnoddrigen, plattdeutschen Slang und zielsicher gesetzten Pointen, A.R. Schridde als David Bowie und S.R. Scholz als Tante Käthe und Riesenschnauzer Rasmus. Gag jagt Gag und Klischee jagt Klischee untermalt von gekonnt talentlosem Punkrock. Dieser Abend ist ein furioser Abschied des Schauspiels in die Sommerpause. Nonsens nicht frei von Kritik und voller Lebensfreude. M.N. Koch und das fantastisch aufspielende Ensemble haben den Punktsunami für 90ig Minuten aufleben lassen.
Die taz schrieb damals zur Dorfpunk-Inszenierung von Studio Braun „lustiger als hierzulande erlaubt und ernster als hierzulande gewünscht“, dem kann ich mich immer noch anschließen bei dieser Inszenierung von M.N. Koch. Ein gelungenes Revival eines Lebensgefühls, das für Großteile des Publikums mehr als fünfzig Jahre zurück liegt.
Als Zugabe dann noch das Blockflöten-Quartett „Blockflöten des Todes“ und der Saal tobte. Perfekte Unterhaltung – Merci & Chapeau.
NACHTKRITIK: Leserkritik: Der Untertan, Rendsburg
#881 Reiner Schmedemann 22.09.2024 00:51
Am Samstag feierte das SHL sein 50jähriges Bestehen mit dem „Untertan“ nach dem Roman von Heinrich Mann in der Bühnenfassung von Wolfgang Hofmann, der auch Regie führte.
„Der Untertan“ im Stil des deutschen Bildungsromans schildert den Werdegang eines aufgeklärten Individuums. In Heßlings Fall wird dieser Romantypus satirisch umgekehrt, indem an die Stelle einer individuellen reifen Persönlichkeitsentwicklung eine hörige Untertanenmentalität tritt. Dieser gesellschaftssatirische Roman zeigt gesellschaftliche Missstände mittels Ironie, Spott und Übertreibung auf. H. Mann hat vor Aufkommen des Faschismus im „Untertan“ den Typus des Macht geilen Treters und Duckmäusers skizziert. In Notizen beschrieb H. Mann seinen „Untertan“ als: „widerwärtig interessanten Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters und des Autoritätsgläubigen wider besseren Wissen.“
M. Apelts Bühne ein mit dunklen Holzpanelen verkleideter, saalartiger Raum an dessen Stirnseite ein Fenster mit Reichsadler den Blick auf sich zieht. Die dunklen Kostüme entsprechen der Zeit. Die Bühne dunkel im Ton spiegelt den Kunstgeschmack der deutschen, konservativen Kaiserzeit. Dieser Bühnenraum ein Menetekel, das im Laufe des Abends Realität wird.
Heßling (Tomás Ignacio Heise) wächst als „weiches“ Kind in der Provinz unter den strengen Augen seines Vaters auf und lernt schnell, sich den wilhelminischen Autoritäten zu fügen, wenn es ihm Vorteil bringt. Er studiert im extravaganten Berlin, wo ihn Burschenschaftler – kaisertreue Nationalisten – buckeln und treten lehren. Nach dem Tod des Vaters kehrt er in die Kleinstadt zurück. Ständig nach Anerkennung heischend, steigt er durch intrigantes und manipulatives Verhalten zum skrupellosen Fabrikbesitzer auf. Nach oben buckelnd und nach unten tretend wird er zum Rädchen im Getriebe des aufsteigenden Nationalismus. Mittels Verleumdung, Schmeichelei und Erpressung schafft er eine Stimmung aus Neid, Missgunst und Hurrapatriotismus.
Hofmann erzählt diese Story sehr stringent, was zur Härte des Textes passt. 95% des Textes sind Originalton H. Mann, so dass Manns feiner Spott in seiner satirischen und ironischen Sprache aufblitzt. Die restlichen 5% stammen aus Kafka-Texten, Himmler- und Hitler-Zitaten sowie dem AfD-Programm. Beängstigend, dass diese Einschübe kaum auffallen und wir uns die Frage stellen müssen: Haben wir aus der Geschichte nichts gelernt?
Die musikalische Untermalung mit deutschem Liedgut, das die Thematik der Szenen aufgreift, durch die Lübecker Gesangsformation FourTune als Liedertafel Netzig ist brillant, da sie die stringente Spielweise des Ensembles atmosphärisch auflädt. W. Hofmann verbindet die Szenen nahezu übergangslos zu einem Höllenritt in den Abgrund, was gelingt, da das Ensemble präzise und hoch konzentriert spielt. Der Abend glänzt mit humoristischen und karikativen Szenen wie z.B. zwischen Heßling und dem Arzt Heuteufel (T. Wild) oder die Szene zwischen Guste (A. Utzelmann) und Heßling.
T.I. Heise gibt Heßling zunächst weich und weinerlich und allem hörig, was ihm Macht verspricht, und entwickelt sich stetig zum machtgeilen Opportunisten. Heise zeichnet ein klares Bild der Wandlung vom schüchternen, autoritätsgläubigen Jungen hin zum rücksichtslosen Karrieristen und Machtmenschen, mit karikativen Zügen. Diese Dualität aus Unterwerfung und Unterdrückung behält Heise bis zum Ende bei. Aus fehlender Selbstachtung geht er im unpersönlichen Ganzen auf, da ihm die Masse die Bestätigung und Orientierung gibt, der er folgt. Einen eigenen inneren Kompass hat er nicht, er folgt stets der Macht.
H. Mann zeichnet seinen Untertan als typischen Opportunisten und übt Kritik an der Obrigkeitshörig-, sowie der Untertänigkeit der Deutschen, was nach diesem Abend bis in die Gegenwart ausstrahlt. Sonntag wird in Brandenburg gewählt!
Ein gelungener Start in die Spielzeit 2024/25, der vom Publikum bejubelt wurde.
NACHTKRITIK, Leserkritik: Vorhang Auf, S.-H. Landestheater
#879 Reiner Schmedemann 09.09.2024 12:52
„Vorhang Auf“ zur fünfzigsten Jubiläumsspielzeit des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters & Sinfonieorchesters
Das SHL eröffnete seine Jubiläumsspielzeit 2024/25 mit einem Festakt, der im Wesentlichen durch musikalische Darbietungen des Orchesters und des musikalischen Ensembles gestaltet wurde. Die Generalintendantin Frau Dr. Ute Lemm führte durch den Abend.
Frau Karin Prien, Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur in Schleswig-Holstein dankte in ihrer Laudatio für die engagierte und vielgestaltige Arbeit des SHLs und den unermüdlichen Einsatz des Theaters im Bereich der Theaterpädagogik, die Kultur in Kitas und Schulen trägt und somit einen wesentlichen Part der kulturellen Bildung übernimmt. Sie schloss ihre Laudatio mit einem klaren Statement zur Unterstützung des neuen Kulturhauses in Schleswig, auf deren Einweihung sie sich 2026 freut.
Frau Janet Sönnichsen, Bürgermeisterin der Stadt Rendsburg und Aufsichtsratsvorsitzende der Landestheater-GmbH dankte nicht nur dem SHL für 50 Jahre empathisches Engagement sondernd im Besonderen auch den zahlreichen Gesellschaftern der GmbH, die dieses Experiment Landestheater mit zum Erfolg geführt haben.
Die Grußworte von Herrn Dr. Joachim Benclowitz, Geschäftsführer des Landesverbandes Nord im Deutschen Bühnenverein, blieben farblos. Hier hätte man sich mehr Enthusiasmus in der Würdigung 50jähriger Theaterarbeit von einem Vertreter des Deutschen Bühnenvereines gewünscht.
Frau Dr. Lemm dankte ihren Vorgängern Herrn Dr. Mesalla, Herrn Grosse und Herrn Grisebach und deren unermüdlichen Einsatz das SHL zu einem Erfolgsmodell zu machen, dem Pessimisten zu Beginn bestenfalls eine Überlebenszeit von 2 bis 3 Jahren prophezeit hatten. Sie dankte den Gesellschaftern für solidarische Unterstützung, allen Beschäftigten des SHLs, ohne die diese 50 Jahre nicht möglich gewesen wären und dem Publikum, das seinem Theater die Treue gehalten hat.
Das Rahmenprogramm wurde von allen künstlerischen Sparten des SHLs gestaltet. Den Schwerpunkt übernahmen das Sinfonieorchester und das musikalische Ensemble mit Werken von Prokofjew, Humperdinck, Weill, Grieg, Beer und J. Strauß. Sie begeisterten mit ihren Darbietungen das vollbesetzte Haus. Frau Langmack verzauberte mit ihrem Puppenspiel, das von M. Grosse ins Leben gerufen wurde. J. Wischmeyer und R. Schlingmann gaben eine Kostprobe ihrer Kinderkonzerte. Das Ballett zeigte nach der Pause das Stück „HAUTNAH“ und das Schauspielensemble brachte Historisches zur Entstehung der Theater in Flensburg, Rendsburg und Schleswig.
So eröffnete das SHL seine Jubiläumsspielzeit 2024/25, die unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Daniel Günther steht, mit einem bunten Reigen von Darbietungen aus allen Abteilungen des Hauses, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden und mit frenetischem Applaus und „Standing Ovation“ gefeiert wurden.
Der Abend endete mit einem Empfang des SHLs in den Foyers des Theaters und ich wünsche dem SHL viel Erfolg auf dem Weg ins ganze Jahrhundert.
NACHTKRITIK, Leserkritik: Prima Facie, S.-H. Landestheater
#839 Reiner Schmedemann 09.02.2024 10:35
PRIMA FACIE der MeToo-Monolog von S. Miller (Juristin und Dramatikerin) in der Übersetzung von A. Rabe steht derzeit auf dem Spielplan des SHL und wird auch als „mobiles theater“ für Schulen angeboten.
Millers PRIMA FACIE (Lat. dem ersten Anschein nach) ist eine feministische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem, in der die Frage gestellt wird, ob mit einer Reform des Sexualstrafrechts bereits alles getan wäre, um Opfern sexueller Gewalt gerecht zu werden. Die Komplexität von Recht und Gerechtigkeit im Kontext sexueller Gewalt wird dargestellt und fordert zum Nachdenken über die Realität von Tätern und Opfern auf. PRIMA FACIE macht die patriarchale Macht der Justiz anhand eines Falles auf beeindruckende, einfühlsame Weise sichtbar.
Ein brandaktueller Monolog, da auch die BRD eine EU-Richtlinie (seit 2022) zur europäischen Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts blockiert, in der „Sex ohne Zustimmung“ als Vergewaltigung definiert wird und somit nur ein „JA“ zur Straffreiheit führt und nicht ein „NEIN“ wie im deutschen Strafrecht. Die BRD blockiert, da die EU nur Straftaten einheitlich regeln darf, die im Katalog besonders schwerer Straftaten aufgeführt sind und Vergewaltigung bisher nicht dazu gehört.
Neele F. Maak spielt die Anwältin Tessa in der Regie von S. Streifinger. Tessa hat es geschafft aus einer unteren sozialen Schicht in einer renommierten Kanzlei zur Top-Strafverteidigerin aufzusteigen. Sie verteidigt Männer, die wegen sexueller Straftaten angezeigt wurden. Tessa nimmt Zeuginnen der Anklage systematisch ins Verhör, um Zweifel am sexuellen Vergehen – im Sinne ihrer Mandanten -offenzulegen; denn „er wusste nicht, dass es kein Einvernehmen gab“. Sie reiht gewonnene Fälle aneinander, bis sie zum Opfer eines sexuellen Übergriffes wird. Nun wird sie mit Erfahrungen konfrontiert, die ihre Selbstbestimmtheit in Frage stellen. Sie erstattet Anzeige und findet sich vor Gericht als Klägerin wieder. Von der Strafverteidigerin ist sie zur Zeugin der Anklage geworden, deren Aussagen angezweifelt werden und solange Zweifel an der Tat bestehen, reichen ihre Aussagen nicht, um den Täter zu verurteilen.
Auf fast leerer Bühne stehen ein Tisch, Stuhl und Akten. Tessa ist in einen grauen Hosenanzug mit weißer Bluse gekleidet. Tessa (N.F. Maak) ist als Strafverteidigerin, zunächst die knallharte Verfechterin des geltenden Rechtssystems. Später durchlebt sie als Klägerin die Angst der Wiederbegegnung mit dem Täter, die Selbstzweifel, das endlose Warten auf den Prozess, die Demütigungen der Befragungen bis hin zur Retraumatisierung.
N.F. Maak bringt all diese Facetten Tessas überzeugend und ins Mark treffend auf die Bühne, da sie es nicht scheut ständig an Grenzen zu gehen und sich und die Zuschauenden nicht zu schonen. Zunächst der kämpferische Profi, der seine Triumphe zelebriert, mit Arroganz, Überheblichkeit und sich für unschlagbar hält. Das gnadenlose, retraumatisierende Kreuz-Verhör ihre schärfste Waffe. Dann die Wandlung zum verletzlichen Menschen, der selbst dem vertrauten Justizsystem nicht gewachsen ist, bis hin zur alten Stärke, um mit Empathie das System zu ändern.
All diese Phasen durchlebt man mit Tessa, da N.F. Maak immer authentisch und überzeugend agiert. Maak versteht es durch ihr variables, erschütterndes Spiel den Zuschauer diese Entwicklung Tessas miterleben zu lassen.
Diese außergewöhnliche, schauspielerische Leistung schafft nachhaltige Wirkung beim Zuschauen und begreift, dass weibliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt nicht in ein männlich geprägtes Strafrecht passen. Dieser Leidensweg sexuell missbrauchter Frauen verdeutlicht, warum die Dunkelziffer bei Sexualstraftaten hoch ist und viele sexuelle Übergriffe nicht zur Anzeige kommen, da die Opfer es nicht ertragen. Dieser Monolog ist ein Plädoyer für besseren Schutz sexuell missbrauchter Frauen im Rechtssystem und man kann nur hoffen, dass die geplante EU-Richtlinie zum Sexualstrafrecht doch noch umgesetzt wird.