NACHTKRITIK, Leserkritik: Vorhang Auf, S.-H. Landestheater
#879 Reiner Schmedemann 09.09.2024 12:52

„Vorhang Auf“ zur fünfzigsten Jubiläumsspielzeit des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters & Sinfonieorchesters
Das SHL eröffnete seine Jubiläumsspielzeit 2024/25 mit einem Festakt, der im Wesentlichen durch musikalische Darbietungen des Orchesters und des musikalischen Ensembles gestaltet wurde. Die Generalintendantin Frau Dr. Ute Lemm führte durch den Abend.
Frau Karin Prien, Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur in Schleswig-Holstein dankte in ihrer Laudatio für die engagierte und vielgestaltige Arbeit des SHLs und den unermüdlichen Einsatz des Theaters im Bereich der Theaterpädagogik, die Kultur in Kitas und Schulen trägt und somit einen wesentlichen Part der kulturellen Bildung übernimmt. Sie schloss ihre Laudatio mit einem klaren Statement zur Unterstützung des neuen Kulturhauses in Schleswig, auf deren Einweihung sie sich 2026 freut.
Frau Janet Sönnichsen, Bürgermeisterin der Stadt Rendsburg und Aufsichtsratsvorsitzende der Landestheater-GmbH dankte nicht nur dem SHL für 50 Jahre empathisches Engagement sondernd im Besonderen auch den zahlreichen Gesellschaftern der GmbH, die dieses Experiment Landestheater mit zum Erfolg geführt haben.
Die Grußworte von Herrn Dr. Joachim Benclowitz, Geschäftsführer des Landesverbandes Nord im Deutschen Bühnenverein, blieben farblos. Hier hätte man sich mehr Enthusiasmus in der Würdigung 50jähriger Theaterarbeit von einem Vertreter des Deutschen Bühnenvereines gewünscht.
Frau Dr. Lemm dankte ihren Vorgängern Herrn Dr. Mesalla, Herrn Grosse und Herrn Grisebach und deren unermüdlichen Einsatz das SHL zu einem Erfolgsmodell zu machen, dem Pessimisten zu Beginn bestenfalls eine Überlebenszeit von 2 bis 3 Jahren prophezeit hatten. Sie dankte den Gesellschaftern für solidarische Unterstützung, allen Beschäftigten des SHLs, ohne die diese 50 Jahre nicht möglich gewesen wären und dem Publikum, das seinem Theater die Treue gehalten hat.
Das Rahmenprogramm wurde von allen künstlerischen Sparten des SHLs gestaltet. Den Schwerpunkt übernahmen das Sinfonieorchester und das musikalische Ensemble mit Werken von Prokofjew, Humperdinck, Weill, Grieg, Beer und J. Strauß. Sie begeisterten mit ihren Darbietungen das vollbesetzte Haus. Frau Langmack verzauberte mit ihrem Puppenspiel, das von M. Grosse ins Leben gerufen wurde. J. Wischmeyer und R. Schlingmann gaben eine Kostprobe ihrer Kinderkonzerte. Das Ballett zeigte nach der Pause das Stück „HAUTNAH“ und das Schauspielensemble brachte Historisches zur Entstehung der Theater in Flensburg, Rendsburg und Schleswig.
So eröffnete das SHL seine Jubiläumsspielzeit 2024/25, die unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Daniel Günther steht, mit einem bunten Reigen von Darbietungen aus allen Abteilungen des Hauses, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden und mit frenetischem Applaus und „Standing Ovation“ gefeiert wurden.
Der Abend endete mit einem Empfang des SHLs in den Foyers des Theaters und ich wünsche dem SHL viel Erfolg auf dem Weg ins ganze Jahrhundert.

NACHTKRITIK, Leserkritik: Prima Facie, S.-H. Landestheater
#839 Reiner Schmedemann 09.02.2024 10:35

PRIMA FACIE der MeToo-Monolog von S. Miller (Juristin und Dramatikerin) in der Übersetzung von A. Rabe steht derzeit auf dem Spielplan des SHL und wird auch als „mobiles theater“ für Schulen angeboten.
Millers PRIMA FACIE (Lat. dem ersten Anschein nach) ist eine feministische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem, in der die Frage gestellt wird, ob mit einer Reform des Sexualstrafrechts bereits alles getan wäre, um Opfern sexueller Gewalt gerecht zu werden. Die Komplexität von Recht und Gerechtigkeit im Kontext sexueller Gewalt wird dargestellt und fordert zum Nachdenken über die Realität von Tätern und Opfern auf. PRIMA FACIE macht die patriarchale Macht der Justiz anhand eines Falles auf beeindruckende, einfühlsame Weise sichtbar.
Ein brandaktueller Monolog, da auch die BRD eine EU-Richtlinie (seit 2022) zur europäischen Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts blockiert, in der „Sex ohne Zustimmung“ als Vergewaltigung definiert wird und somit nur ein „JA“ zur Straffreiheit führt und nicht ein „NEIN“ wie im deutschen Strafrecht. Die BRD blockiert, da die EU nur Straftaten einheitlich regeln darf, die im Katalog besonders schwerer Straftaten aufgeführt sind und Vergewaltigung bisher nicht dazu gehört.
Neele F. Maak spielt die Anwältin Tessa in der Regie von S. Streifinger. Tessa hat es geschafft aus einer unteren sozialen Schicht in einer renommierten Kanzlei zur Top-Strafverteidigerin aufzusteigen. Sie verteidigt Männer, die wegen sexueller Straftaten angezeigt wurden. Tessa nimmt Zeuginnen der Anklage systematisch ins Verhör, um Zweifel am sexuellen Vergehen – im Sinne ihrer Mandanten -offenzulegen; denn „er wusste nicht, dass es kein Einvernehmen gab“. Sie reiht gewonnene Fälle aneinander, bis sie zum Opfer eines sexuellen Übergriffes wird. Nun wird sie mit Erfahrungen konfrontiert, die ihre Selbstbestimmtheit in Frage stellen. Sie erstattet Anzeige und findet sich vor Gericht als Klägerin wieder. Von der Strafverteidigerin ist sie zur Zeugin der Anklage geworden, deren Aussagen angezweifelt werden und solange Zweifel an der Tat bestehen, reichen ihre Aussagen nicht, um den Täter zu verurteilen.
Auf fast leerer Bühne stehen ein Tisch, Stuhl und Akten. Tessa ist in einen grauen Hosenanzug mit weißer Bluse gekleidet. Tessa (N.F. Maak) ist als Strafverteidigerin, zunächst die knallharte Verfechterin des geltenden Rechtssystems. Später durchlebt sie als Klägerin die Angst der Wiederbegegnung mit dem Täter, die Selbstzweifel, das endlose Warten auf den Prozess, die Demütigungen der Befragungen bis hin zur Retraumatisierung.
N.F. Maak bringt all diese Facetten Tessas überzeugend und ins Mark treffend auf die Bühne, da sie es nicht scheut ständig an Grenzen zu gehen und sich und die Zuschauenden nicht zu schonen. Zunächst der kämpferische Profi, der seine Triumphe zelebriert, mit Arroganz, Überheblichkeit und sich für unschlagbar hält. Das gnadenlose, retraumatisierende Kreuz-Verhör ihre schärfste Waffe. Dann die Wandlung zum verletzlichen Menschen, der selbst dem vertrauten Justizsystem nicht gewachsen ist, bis hin zur alten Stärke, um mit Empathie das System zu ändern.
All diese Phasen durchlebt man mit Tessa, da N.F. Maak immer authentisch und überzeugend agiert. Maak versteht es durch ihr variables, erschütterndes Spiel den Zuschauer diese Entwicklung Tessas miterleben zu lassen.
Diese außergewöhnliche, schauspielerische Leistung schafft nachhaltige Wirkung beim Zuschauen und begreift, dass weibliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt nicht in ein männlich geprägtes Strafrecht passen. Dieser Leidensweg sexuell missbrauchter Frauen verdeutlicht, warum die Dunkelziffer bei Sexualstraftaten hoch ist und viele sexuelle Übergriffe nicht zur Anzeige kommen, da die Opfer es nicht ertragen. Dieser Monolog ist ein Plädoyer für besseren Schutz sexuell missbrauchter Frauen im Rechtssystem und man kann nur hoffen, dass die geplante EU-Richtlinie zum Sexualstrafrecht doch noch umgesetzt wird.